Jetzt spenden

Warum wir „Hasenscharte“ nicht mehr sagen sollten

Hasenscharte, Wolfsrachen oder Kamelmaul. Diese Begriffe findet man nicht etwa in einem Lexikon über die Anatomie von Tieren, sondern in Werken der frühen Humanmedizin. Weil man sich die Entstehung von kranofaszialen Fehlbildungen, oder auch Spaltbildungen, nicht erklären konnte, benannte man sie nach dem, woran sie optisch erinnerten: nach Tieren. Auch wenn wir uns über die Jahrhunderte hinweg viel mehr medizinisches Wissen über Spaltbildungen angeeignet haben und in unserer Gesellschaft heutzutage ein respektvoller sprachlicher Umgang miteinander immer wichtiger wird, halten sich die Begriffe bis heute hartnäckig in der Alltagssprache. Man findet sie häufig in Zeitungen, Fernsehprogrammen und sogar in medizinischen Fachzeitschriften. Doch Menschen mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten empfinden „Hasenscharte“ oder „Wolfsrachen“ im Allgemeinen als abwertend und beleidigend.

Woher kommen diese Begriffe? Wie verbreitet sind sie in anderen Ländern? Und wie können wir zu einer toleranteren und gerechteren Sprache finden?

Woher kommt der Begriff „Hasenscharte“?

In der deutschsprachigen medizinischen Literatur taucht der Begriff „Hasenscharte“ erstmals in einem Werk des renommierten deutschen Wundarztes Heinrich von Pfalzpaint aus dem Jahre 1460 auf. Warum ausgerechnet der Hase als Vergleich gewählt wurde, wo doch auch andere Tiere eine Y-förmige Spalte zwischen der Nase und der Oberlippe aufweisen, ist bis heute nicht ganz klar. Vermutlich geht der Name nicht nur auf einen optischen Vergleich zurück, sondern hat auch einen Ursprung im damals noch weit verbreiteten Aberglauben. Sowohl in Deutschland als auch im angloamerikanischen Raum und in Asien glaubte man bis vor wenigen Jahrhunderten, dass das Sehen eines Hasens, der Verzehr von Hasenfleisch oder gar der schlichte Gedanke an das Tier während der Schwangerschaft zur Geburt eines Kindes mit Spaltbildung führen könnte. „Hare lip“ heißen Spaltbildungen auf Englisch, als „Tu Que“ – „Tu“ bedeutet Hase und „Que“ Spalte oder Defekt – bezeichnet man sie in China. Auch wenn die moderne Medizin die „Hasen-Theorie“ bereits vor langer Zeit widerlegen konnte, sind die Bezeichnungen bis heute geblieben.

Ich bin kein Hase, ich bin ein Mensch!

Sprache prägt unser Denken, unser Handeln, unsere Realität. Ein kleines Kompliment kann unseren gesamten Tag beeinflussen, ebenso wie ein Streitgespräch am Morgen oder eine uns persönlich treffende Beleidigung. Bezeichnungen wie „Hasenscharte“ oder „Wolfsrachen“  werden von vielen Menschen mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte als abwertend und respektlos empfunden. Die Betroffenen haben mit einem Hasen, einem instinktgeleiteten Fluchttier genauso wenig gemein, wie mit einem räuberischen, heulenden Wolf.

Aus unseren Projektländern wissen wir, dass das Leben der Betroffenen mitunter massiv durch ihre Spaltbildung bestimmt wird. In Somalia zum Beispiel wird ein Kind mit Spalte nicht mehr mit seinem Namen angesprochen, sondern schlichtweg „Spalte“ gerufen. Dadurch werden die Kinder auf ihren äußerlichen Makel reduziert, es wird ihnen ein Teil ihrer Identität genommen. Ohne Operation begleitet sie diese Abwertung ein Leben lang. Aus Scham versuchen sie, die Spalte zu verstecken. Am liebsten würden sie sich selbst unsichtbar machen. Welche nachhaltigen psychischen Verletzungen das zur Folge haben, kann man sich unschwer vorstellen.

Zu einer gerechteren Sprache finden

Auch wenn in Deutschland das Bewusstsein für eine inklusivere und sensiblere Sprache in den letzten Jahren zugenommen hat, begegnen wir den diffamierenden Zoomorphologien auch in unserer Arbeit noch zu häufig. Wenn wir Außenstehenden erklären, dass wir benachteiligten Kindern mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten die dringend nötigen Operationen finanzieren, kommt oft die Frage zurück: „Ach, also Kinder mit Hasenscharte?“. Auch wenn die Verwendung dieses Begriffs meist nicht böse gemeint ist, sollten wir ihn aus Respekt gegenüber Betroffenen nicht weiter verwenden. Stattdessen ist es uns ein Anliegen, die medizinisch korrekten Begriffe wie „Lippenspalte“, „Gaumenspalte“ beziehungsweise „Lippen-Kiefer-Gaumenspalte“ populärer zu machen. Eine Studie des Universitätsklinikums Leipzig konnte zeigen, dass das medizinische Fachpersonal der Klinik zwar mehrheitlich die medizinisch korrekten Termini verwendete, aber doch nicht alle. Und wenn selbst Ärztinnen und Ärzte noch immer Begriffe wie „Hasenscharte“ benutzen, ist es wenig verwunderlich, dass die Verbreitung im nicht medizinischen Kontext noch größer ist.

Toleranz, Unterstützung und Behandlung

„Wie geht es dir?“ statt „Was hast du da?“, „Was brauchst du?“ statt „Warum hast du das?“, „Du bist toll“ statt „Du bist anders“. Betroffene mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte leiden nicht nur unter den funktionellen Folgen ihrer Spaltbildung, sondern auch unter ihrem offensichtlichen „Anderssein“. In Deutschland erhalten Kinder mit Spaltbildung meist schon früh eine Behandlung, wodurch das Risiko für gesundheitliche Komplikationen minimiert werden kann. Doch auch hierzulande sind Betroffene nicht befreit von Spott, Ausgrenzung und Häme. Die Selbsthilfevereinigung „Wolfgang Rosenthal Gesellschaft“ hat dazu einen eindrücklichen Beitrag namens „Einzigartig! Ein Film von und für junge LKGS-Betroffene“ veröffentlicht. Hier wird deutlich, welchen Einfluss Sprache auf das Leben eines Menschen haben kann. Um den Betroffenen mit Respekt und Toleranz zu begegnen, verwenden wir keine diffamierenden Begriffe wie „Hasenscharte“ oder „Wolfsrachen“. Machen Sie mit und andere darauf aufmerksam, um so in unserer Gesellschaft zu einer gerechteren Sprache zu finden.

Den Kindern in unseren Projektländern können sie mit Ihrer Spende helfen. Denn diese haben oft keinen Zugang zu einer Behandlung. Ihre Eltern können sich die Operation nicht leisten oder sie wissen schlichtweg nichts von den Behandlungsmöglichkeiten. So werden viele Betroffene erst im Erwachsenenalter operiert und von ihrer Spalte befreit. Viele auch nie. Sie leiden dann ein Leben lang unter den Wunden von Ausgrenzung und Scham. Die Operation zum Verschluss der Spalte ist für sie die Voraussetzung für ein Leben in Würde und Gemeinschaft.